Schmerztherapie
Ein Vortrag von Dr. med. Gerhard Müller-Schwefe beim Polio-Treff Göppingen
Auf den Samstag 18.11. 2000, habe ich mich ganz besonders gefreut: Herr Dr. Gerhard Müller-Schwefe hatte zugesagt, im Polio-Treff Göppingen einen Vortrag über Schmerztherapie zu halten und die verschiedensten Fragen zu beantworten. Für uns Polio-Betroffene ein so zentrales Problem, dass aus den vorgesehenen zwei Stunden über drei Stunden wurden. Bei der Vorstellung kündigte ich ihn an als: „einen Arzt, der seinen Beruf wirklich als Berufung auffasst.“ Und die Reaktionen an diesem Nachmittag zeigten, dass ich nicht zuviel versprochen hatte: endlich mal ein Arzt, der für uns chronische Schmerzpatienten nicht nur ein offenes Ohr hat, sondern auch ganz massiv für uns eintritt und kämpft; wenn’s sein muss, auch vor Gericht. Herr Dr. Müller-Schwefe hat uns alle erst mal damit verblüfft, als er uns vorführte, wie unser „Filtersystem“ funktioniert: Entspannung nach Jacobson war angesagt. Es wurde still und stiller im Raum; alle konzentrierten sich auf das, was Dr. Müller-Schwefe sagte. Seine ruhige, vertrauensvolle Stimme ließ uns das „Hier und Heute“ vergessen und uns auf uns selbst konzentrieren – vertrauen. Die oft vergebliche Suche nach dem „Fleckchen“ an unserem Körper, das gesund ist und nicht schmerzt. Die Anspannung unserer Muskeln und die erlösende Entspannung, das wohlige Gefühl der Durchflutung, von Fuß bis Kopf: eine Wohltat. Chronische Schmerzen entstehen, wenn durch auftretende Akut-Schmerzen mit der Zeit hemmende Nervenzellen absterben und dadurch der „Schmerzfilter“ (Möglichkeit der Ablenkung) wegfällt. Den Unterschied erklärte Dr. Müller-Schwefe so:
Akute Schmerzen- sind sinnvoll, weil von kurzer Dauer
- haben eine Ursache
- sind hilfreiche Warner
- sind Symptom einer Störung und eine kausale Behandlung beseitigt den Schmerz
- sind von längerer Dauer
- haben verschiedene Ursachen (bio-psycho-sozial)
- sind ein eigenständiges Krankheitsbild
- erfordern eine umfassende Behandlung der Symptome (unter anderem Phantomschmerz und viele Kopfschmerzformen).
Das Tragische für Schmerzpatienten ist, dass Ärzte während ihrer Ausbildung nur sehr kurz Akut-Schmerzen streifen, chronische Schmerzbehandlung jedoch überhaupt kein Thema ist.
Dr. Müller-Schwefe bezeichnete chronische Schmerzen als die wirkliche Seuche des 21. Jahrhunderts, und vorrangiges Ziel muss eine Prävention und Schmerzchronifizierung sein!
Das Tragische für Schmerzpatienten ist, dass Ärzte während ihrer Ausbildung nur sehr kurz Akut-Schmerzen streifen, chronische Schmerzbehandlung jedoch überhaupt kein Thema ist.
Herr Dr. Müller-Schwefe bezeichnete chronische Schmerzen als die wirkliche Seuche des 21. Jahrhunderts, und vorrangiges Ziel muss eine Prävention der Schmerzchronifizierung sein!
Dass Dr. Müller-Schwefe über reichlich Humor verfügt, gab er auf „breit schwäbisch“ zum Besten:
S treffat sich Pfleiderer ond Häberle. (Pfleiderer und Häberle sind schwäbische Originale). Pfleiderer zom Häberle: I gang ens Stickle (Ich gehe in den Garten).Häberle zom Pfleiderer: I ben auf dem Weg noch enna (innen). Pfleiderer daraufhin zom Häberle: O je, des wär mir z’weit (zu weit)!
Warum dieser Witz? Der Weg nach innen ist lang, steinig und oft auch dunkel. Er kostet uns Sensibilität, Einfühlungsvermögen, Achtsamkeit. Mit Anderen können wir das schon eher – aber mit uns selbst?
Dr. Müller-Schwefe sprach allen Anwesenden aus der Seele, wenn er chronisch Schmerzkranke als „völlig unterversorgt“ darstellt. Er zeigte Vergleichsdaten mit anderen Ländern, in denen Schmerzpatienten Opiate zur Schmerzbekämpfung erhalten. Dabei wurde schnell klar, dass unser doch so hoch entwickeltes Land auf diesem Gebiet nichts anderes als ein „Entwicklungsland“ ist. Dr. Müller-Schwefe nannte eine Zahl von 1.350.000 Patienten, die mit Opioiden versorgt werden müssten!
Nachhilfe benötigt seiner Meinung nach offensichtlich dringend die damalige Gesundheitsministerin Andrea Fischer, die im Gespräch mit ihm offen zugab, überhaupt nicht zu wissen, dass es chronische Schmerzpatienten, noch dazu etwa 11 Millionen, in Deutschland gibt. Das ganze Thema war ihr völlig unbekannt! Wie ist es möglich, ohne fundierte Kenntnisse Politik zu „machen“ und über Gesetze zu entscheiden?
Patienten mit chronischen Schmerzen – ohne Kopfschmerzpatienten!!! - sind 13,75 Prozent der deutschen Bevölkerung. Was für ein Potential, wenn sich alle zusammenschließen, um den Politikern „den Marsch zu blasen“! Milliarden Euro geben die Krankenkassen aus, um uns krank und abhängig zu machen, abhängig von Schmerzmitteln, die unseren Magen, Leber, Nieren und Blut zerstören – uns noch kränker machen! Die Berufsordnung für Ärzte schreibt vor: „Aufgabe eines Arztes ist es, das Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen sowie Leiden zu lindern“!
Dr. Müller-Schwefe nannte eine Zahl von jährlich ca. 3000 Toten in Deutschland, die an den Nebenwirkungen von Schmerzmitteln sterben. Demgegenüber steht eine Zahl von „nur“ 1700 Drogentoten. Über die wird gesprochen und geschrieben, es sind jedoch keine sorgfältig vom Schmerztherapeuten eingestellten Patienten!
Warum sind Diabetiker oder Hochdruckkranke nicht auch „abhängig“ von ihren Medikamenten? Schließlich „brauchen“ sie diese zum Leben. Was passiert, wenn man ihnen ihre Medikamente vorenthält (nur weil das „Budget“ ausgeschöpft ist)? Schmerzpatienten benötigen ebenso spezielle Medikamente, um wieder zu einer Lebensqualität zurückzufinden, die ihr Leben wieder lebenswert erscheinen lässt und sie nicht als „Faulenzer“ und „Simulanten“ abstempelt. Jeder Einzelne von uns kann solche Geschichten erzählen.
Schmerzpatient kann schließlich jeder – jederzeit - werden.
Dr. Müller-Schwefe brachte es auf den Punkt:
Nicht Morphinpräparate machen süchtig, sondern koffeinhaltige Mischpräparate wie Kopfschmerzmittel. Deren Wirkung beträgt etwa sechs bis acht Stunden. Fällt der Spiegel wieder ab, erleben Dauerpatienten Entzugskopfschmerzen (jahrelang selbst erlebt)! Macht ja nichts – noch ‘ne Tablette und unser Magen freut sich. Durch diesen Kreislauf merken Patienten oft noch nicht einmal, wenn sie einen Magendurchbruch erleiden; sie „betäuben“ ja ihre Schmerzen ständig.
Mal ganz im ernst: Wer ist hier denn „süchtig“? Ich selbst habe das Glück, langjährige Patientin von Dr. Müller-Schwefe zu sein und von ihm „Marinol“ zu erhalten. Meiner Umgebung ist noch nie aufgefallen, dass ich ein „Junkie“ bin! Zusätzliche, andere Behandlungen – Akupunktur, TENS, Dorn-Methode (siehe Polio Europa Aktuell Nr. 3 / Juni 2000 Seite 24), Krankengymnastik, mehr Schonung durch Berentung – zeigen ebenfalls ihre Wirkung.
Wobei natürlich immer wieder die Frage auftaucht: Wo kriege ich all’ diese Rezepte für Medikamente und Behandlungen her? Ich beschäftige damit drei verschiedene Ärzte, um daran zu kommen. Noch bezahlt die Kasse – zumindest den größten Teil...
Dr. Müller-Schwefe hat sich bereit erklärt, über die genaue medizinische Definition der Schmerzent-stehung, ihre „Funktion“ und die Schmerzbekämpfung einen Artikel für uns zu verfassen. Deshalb versuche ich auch gar nicht, medizinische Erklärungen abzugeben; das kann Dr. Müller-Schwefe viel besser!
Um langfristig chronische Schmerzen in den „Griff“ zu kriegen, ist unbedingt „wiederholte Information“ Grundlage für ein „Überlisten“ des Schmerzgedächtnisses. Das bedeutet, Schmerzen werden „gelernt“ und können durch Wiederholungen auch wieder „verlernt“ werden. Das Prinzip ist das Gleiche wie beim 1-mal-1-Lernen in der Schule. Nur durch „ständiges Wiederholen“ der Schmerzfreiheit lernt unser Schmerzgedächtnis, Schmerzen zu vergessen. Dr. Müller-Schwefe ist im Vorstand der Deutschen Schmerzliga und als Präsident des Deutschen Schmerzkolloquiums tätig, praktiziert in seiner Göppinger Praxis interdisziplinär – zusammen mit Ärzten aus verschiedenen Fachrichtungen wird der Patient untersucht, die Diagnose erstellt und weitere Maßnahmen zur Schmerztherapie eingeleitet.
Dr. Müller-Schwefe forderte die Anwesenden auf, an die Bundesgesundheitsministerin zu schreiben, dass wir uns durch das Vorschreiben eines Budgets betrogen fühlen. Der Staat kassiert doch kräftig mit, wenn’s um den Zigarettenverkauf geht, beteiligt sich aber nicht an den Kosten, wenn die Menschen davon krank werden! Die bezahlt dann das Gesundheitswesen von den allgemeinen Krankenversicherungsbeiträgen, die dann für andere Patienten, die dringender Hilfe bedürfen, nicht mehr zur Verfügung stehen. Ebenso muss die Mehrwertsteuer auf Medikamente logischerweise auch dem Gesundheitswesen zugeführt werden.
Selbsthilfegruppen sind für Patienten dringend notwendig, um sich gegenseitig zu stärken, zu helfen und zu unterstützen. Deshalb ist Herr Dr. Müller-Schwefe auch gerne meiner Bitte nachgekommen, seine sowieso sehr knappe Zeit uns so reichlich zur Verfügung zu stellen. Für alle Anwesenden im Donzdorfer Forum war es ein Erlebnis und eine große Bereicherung, miterleben zu können, wie ein Arzt nicht nur Verständnis für unsere Probleme aufbringt, sondern uns aktiv bei deren Bewältigung hilft und unterstützt. Unsere vielen Fragen beantwortete er ausführlich und für jeden verständlich – ohne Medizinerlatein – und nahm sich anschließend noch Zeit für ganz spezielle und persönliche Fragen.
Eine von Dr. Müller-Schwefe’s „Leidenschaften“ (außer seinen Patienten) kenne ich sehr gut: er liebt Orchideen. Wer mal in seiner Praxis war, staunt über ein wundervoll dekoriertes Orchideenfenster und die schönen Pflanzen im Warteraum. Auch dort ist seine Liebe zu seinen Patienten zu spüren – sie sollen sich wohl fühlen und können sich an bereitgestellten Getränken erfrischen.
Herr Dr. Gropper, Inhaber der Schloss-Apotheke und des Forums in Donzdorf, hat uns wieder einmal diesen schönen Konferenzraum kostenlos zur Verfügung gestellt. Er unterstützt unsere Gruppe gerne, hat er doch einen ganz persönlichen Bezug zu uns: sein Bruder starb an Polio!
Monika Keller, Polio-Treff Göppingen