Symptomatik und Epidemiologie der Poliomyelitis
Vortrag von Dr. Eckart Lensch anlässlich einer Veranstaltung der Polio Initiative Europa e.V. in der Deutschen Klinik für Diagnostik in Wiesbaden
Die moderne Geschichte der heute als Poliomyelitis bezeichneten Erkrankung beginnt 1840 mit der Beschreibung der Symptomatik durch den deutschen Orthopäden Jacob von Heine und dem schwedischen Kinderarzt Carl Medin, die sich insbesondere um die prothetische Versorgung ihrer Patienten bemühten. 1908 wurde das Poliomyelitisvirus durch Landsteiner und Popper entdeckt, denen im Rahmen ihrer Forschung 1909 auch die Übertragung der Erkrankung auf Affen gelang. 1949 wurde an einer mit Poliomyelitisviren infizierten Zellkultur der sogenannte zytopathische Effekt nachgewiesen, der das Verständnis vom Ablauf viraler Infektionen im Organismus wesentlich verbesserte. Besondere öffentliche Aufmerksamkeit wurde der Erkrankung zuteil, als der spätere amerikanische Präsident Roosevelt während eines Wahlkampfes 1920 an einer Poliomyelitis erkrankte.
Der Erreger der Poliomyelitis gehört zu den kleinen RNH-haltigen Picorna-Viren. Die geometrische Figur entspricht einem Ikosaeder (regelmäßiger Zwanzigflächner) mit einem Durchmesser von 30 Nanometern. Der Poliomyelitiserreger gehört zu den Enteroviren, das heißt er wird über den Darm aufgenommen. Man unterscheidet serologisch drei verschiedene Typen (Brunhilde, Lansing und Leon). Eine besondere Eigenschaft des Erregers ist seine Umweltstabilität.
Bei der Aufnahme des Virus kommt es zunächst zu einer lokalen Ansiedlung im Rachen und im Darm. Die Erreger erreichen dann die regionalen Lymphknoten und gelangen von dort ins Blut. Grundsätzlich ist das Poliomyelitisvirus in der Lage, die Blutliquorschranke zu überwinden und damit Gehirn und Rückenmark zu erreichen. Bevorzugt befällt es die Vorderhornzellen im Rückenmark und verursacht dort einen direkt virusbedingten Zellschaden. Das Virus wird anschließend vollständig wieder eliminiert.
Die Übertragung erfolgt über die Wiederaufnahme ausgeschiedener Erreger, also fäkal-oral oder durch Speichel. Die Inkubationszeit beträgt 5 bis 10 Tage. Wie bei vielen Viruserkrankungen kann der klinische Verlauf nach einer Infektion unterschiedlich sein. In bis zu 95 % der Poliomyelitisinfektionen tritt keine Symptomatik auf, das heißt die Infektion verläuft inapparent. In 5 bis max. 10 % der Fälle kommt es zu milden unspezifischen Reaktionen, die sich auf ein allgemeines Krankheitsgefühl beschränken. Nur etwa 1 % der Infizierten entwickeln die typischen Symptome einer schlaffen Lähmung an einer oder mehreren Extremitäten. Sehr selten kann es zu Zellschäden im Gehirn mit cerebralen Symptomen kommen. Die Poliomyelitisinfektion hinterläßt eine typenspezifische rein humorale Immunität durch Bildung entsprechender IgA- und IgG-Antikörper. Dieser Schutz besteht möglicherweise in Abhängigkeit von späteren Re-Infektionen im allgemeinen lebenslang.
Bei der typischen paralytischen Poliomyelitis kommt es klinisch zunächst zu unspezifischen Beschwerden an den oberen Luftwegen oder einem Durchfall. Begleitend tritt ein erster mäßiger Temperaturanstieg auf und die Betroffenen klagen über Kopf-, Rücken- und Gliederschmerzen, zum Teil begleitet von einem leichten Meningismus. Bei nachlassendem allgemeinen Krankheitsgefühl und bei bereits sinkender Temperatur setzen dann rasch asymmetrische schlaffe Paresen ein. In den gelähmten Extremitäten erlöschen die Reflexe, Sensibilitätsstörungen werden im allgemeinen nicht angegeben. Mit kompletter Entfieberung ist das Maximum der Lähmungen erreicht. Die Diagnostik stützt sich im wesentlichen auf diese typische Anamnese und das klinische Bild der rein motorischen, rasch eintretenden asymmetrischen Schädigung. Die Liquoruntersuchung zeigt eine lymphozytäre Pleozytose bis 1000 Drittelzellen und grenzt die Erkrankung damit gegen die wichtigste Differentialdiagnose, die Poliradikulitis (Guillain-Barré-Syndrom), die im allgemeinen nicht mit einer Zellzahlerhöhung, sondern einer Zunahme des Liquoreiweißes einher geht. Der Poliomyelitiserreger läßt sich in Lymphknoten und im Nasen-Rachen-Raum zuerst, im weiteren Verlauf der Erkrankung aber einfacher und länger anhaltend im Stuhl nachweisen. Der Nachweis der entsprechenden Antikörper im Serum ist etwa ab dem 10. Tag nach der Infektion und mit einem Maximum nach weiteren 10 Tagen möglich. Dieser geschieht durch Neutralisationstest oder die sogenannte Komplementbindungsreaktion.
Die Poliomyelitis war eine bis 1960 weltweit verbreitete Erkrankung. Eine massive Virusausscheidung mit den Fäkalien durch alle Infizierte über ein bis drei Monate sowie ein auch außerhalb des Organismus bis zu drei Monaten resistentes Virus führten zu einer insgesamt hohen Durchseuchung und stellen für die Bekämpfung der Erkrankung eher ungünstige Rahmenbedingungen dar. Der Versuch einer weltweiten Bekämpfung der Infektion konnte begonnen werden, nachdem 1954 zunächst ein nur humoraler, 1959 dann auch ein Lebendimpfstoff entwickelt worden waren. Von den epidemiologischen Rahmenbedingungen war dabei als günstige Voraussetzungen zu werten, daß der Mensch einziger Poliomyelitiswirt ist und die Immunität lebenslang besteht.
Mit einem Programm der Weltgesundheitsorganisation wird seit 1988 versucht, die Poliomyelitis weltweit aussterben zu lassen (sogenannte Poliomyelitis-Eradikation). Nach Einführung der Impfungen sind die letzten Fälle in Nord- und Südamerika 1991, im westlichen Pazifik 1997 und in Europa 1998 aufgetreten. 1999 wurden noch 3300 Fälle im indischen Subkontinent, 2800 Fälle in Afrika (dort in 20 der 46 Staaten) und 830 Fälle im Nahen Osten gemeldet. Insgesamt ist es gelungen, die Zahl der weltweit aufgetretenen Fälle von 350.000 in 1988 auf 6700 in 1999 zu senken. In Europa ist es in den 90er-Jahren noch zu insgesamt 6 Kleinepedemien mit etwa 30 bis 60 Fällen durch eingeschleppte Viren gekommen. Der letzte Fall ist 1998 aus der Türkei gemeldet worden. In Deutschland sank die Zahl der Erkrankungsfälle an Poliomyelitis nach Einführung der Impfung 1961 von zuvor mehreren tausend Fällen pro Jahr rasch auf Werte unter 100 pro Jahr.
Seit März 1998 wird die Poliomyelitisfreiheit in Deutschland durch ein besonderes Meldesystem überwacht. Alle neurologischen und pädiatrischen Kliniken sind aufgefordert, Patienten mit plötzlich auftretenden schlaffen Paresen an eine zentrale Stelle zu melden. Mit diesem System sollen eventuell noch auftretende Poliomyelitisfälle erfaßt werden. Darüber hinaus geschieht eine indirekte Kontrolle der Meldequalität durch Miterfassung anderer Erkrankungen vergleichbarer Symptomatik, z.B. dem oben schon erwähnten Guillain-Barré-Syndrom. Bisher ist in Deutschland kein neuer Poliomyelitisfall aufgetreten.
Dr. Lensch